Welchen Einfluss hat eine Änderung des OECD-Musterkommentars auf die Auslegung von Doppelbesteuerungsabkommen? Mit dieser Frage hatte sich aktuell der Bundesfinanzhof zu befassen:

Es widerspricht der ständigen Spruchpraxis des Bundesfinanzhofs, im Sinne einer dynamischen Abkommensauslegung der späteren Fortentwicklung oder Änderung von OECD-Verlautbarungen eine streitentscheidende Bedeutung für das Verständnis bereits zuvor verhandelter Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung beizumessen[1]. Darüber hinaus sind auch etwa das DBA-FRA und das DBA-CHE nicht bereits deshalb nach Maßgabe der Neufassung des OECD-Musterkommentars auszulegen, weil sie zeitnah zur Neufassung des Kommentars durch das Gesetz zu dem Zusatzabkommen vom 20.12 2001 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik zum DBA-FRA[2] sowie durch das Gesetz zu dem Revisionsprotokoll vom 12.03.2002 zum DBA-CHE[3] modifiziert worden sind[4].
Auszugehen ist hierbei von Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.05.1969 -WÜRV-[5], nach dessen Absatz 1 ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seiner Bestimmung in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen ist[6]. Außer dem in Art. 31 Abs. 2 WÜRV näher beschriebenen systematischen „Zusammenhang“ sind nach Art. 31 Abs. 3 WÜRV in gleicher Weise jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen (Buchst. a) sowie jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht (Buchst. b), zu berücksichtigen. Demgemäß kann ein übereinstimmendes Abkommensverständnis und eine gemeinsame „Übung“ der beteiligten Finanzverwaltungen für die Abkommensauslegung bedeutsam sein[7], das aber immer nur insofern, als sie nicht dem Wortlaut des Abkommens zuwiderlaufen[8]. Nach Art. 31 Abs. 4 WÜRV ist schließlich einem Ausdruck eine besondere Bedeutung i.S. einer Auslegungshilfe beizulegen, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben.
Der Bundesfinanzhof hat bislang die Frage, ob ein geänderter OECD-Musterkommentar bei der Abkommensauslegung berücksichtigt werden kann, wenn das konkrete Abkommen später geändert wird, noch nicht entschieden. Er hat lediglich ausgeführt, dass Empfehlungen der OECD, wie sie sich im sog. Partnership Report niedergeschlagen haben, eine Hilfe für die Abkommensauslegung darstellen, aber „frühestens“ ab der entsprechenden Neufassung des OECD-Musterkommentars im Jahre 2000 beachtenswert sein können[9].
Dabei brauchte der Bundesfinanzhof im vorliegenden Streitfall nicht zu entscheiden, ob der Musterkommentar zum OECD-MustAbk (OECD-MustKomm) überhaupt eine bei der Auslegung zu berücksichtigende „Übung der Vertragsstaaten“ zu begründen vermag[10] oder ob es nicht vielmehr auf die konkrete Abkommensanwendung ankommt. Denn für die Judikative kommt es -gerade mit Blick auf das Gewaltenteilungsprinzip- allein auf den Abkommenstext und den Abkommenszusammenhang an[11] und kann Abweichendes nur gelten, wenn sich die (vermeintlichen) „späteren Übereinkünfte der Vertragsstaaten“ oder „zwischenstaatlichen Übungen“ in einem geänderten Abkommen sowie einem entsprechenden Transformationsgesetz niedergeschlagen haben[12].
Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 15.12.2015[13] betont hat, werden Rang und Einordnung eines völkerrechtlichen Vertrags innerhalb der deutschen Rechtsordnung durch das Grundgesetz bestimmt. Während die allgemeinen Regeln des Völkerrechts kraft unmittelbar in der Verfassung erteilten Vollzugsbefehls innerstaatlich wirksam sind und im Rang über dem Gesetz stehen (Art. 25 GG), bedürfen völkerrechtliche Verträge, die die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, für ihre innerstaatliche Wirksamkeit gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG eines Zustimmungsgesetzes und haben grundsätzlich nur den Rang eines einfachen (Bundes-)Gesetzes. Zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehören zwar das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts, Bestimmungen in völkerrechtlichen Verträgen nehmen aber grundsätzlich nicht an dem in Art. 25 Satz 2 GG vorgesehenen Vorrang teil. Demgemäß können sie nach dem lex-posterior-Grundsatz durch spätere, ihnen widersprechende Bundesgesetze verdrängt werden.
Aus diesen Verfassungsgrundsätzen ergibt sich nicht nur, dass die zwischen den Fisci getroffene Vereinbarung, nach der eine spätere Übereinkunft der Vertragspartner für die Abkommensauslegung (hier in Form des OECD-Musterkommentars) maßgebend sei, nicht dazu führen kann, dass ein völkerrechtlicher Vertrag für das innerstaatliche Recht eine andere Bedeutung erhält, als dies dem Zustimmungsgesetz entspricht[14].
Da -wie erläutert- die Änderung eines völkerrechtlichen Vertrags nur aufgrund eines entsprechenden Zustimmungsgesetzes innerstaatliche Wirksamkeit erlangt, und hierzu ausschließlich der deutsche Gesetzgeber befugt ist, bedarf es keiner weiteren Erläuterung, dass den die DBA vollziehenden Verwaltungsbehörden eine solche Kompetenz nicht zukommt[15]. Eine von ihnen getroffene Vereinbarung zur Abkommensauslegung kann, wenn sie keinen Eingang in den geänderten Vertragstext sowie das Zustimmungsgesetz gefunden hat, auch die Gerichte nicht binden. Diese haben vielmehr den Abkommensinhalt nach Maßgabe des Zustimmungsgesetzes zu ermitteln. Demgemäß kann es auch unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung nicht in Betracht kommen, der bloßen Änderung des OECD-Musterkommentars, selbst dann, wenn sie mit Zustimmung der deutschen Verwaltung beschlossen worden sein sollte, eine normative und von den Gerichten zu beachtende Bedeutung beizumessen[16].
Der OECD-Musterkommentar mag zwar für die Auslegung später abgeschlossener Abkommen bedeutsam sein, er steht aber keinesfalls auf einer Stufe mit der auszulegenden völkervertraglichen Regelung selbst. Sein Stellenwert ist vielmehr dem der Gesetzesmaterialien bei der Auslegung nationaler Gesetze vergleichbar und es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass sich die Intentionen der „Kommentatoren“ nicht im Gesetzestext widerspiegeln oder durch vorrangig einzustufende systematische oder teleologische Erwägungen verdrängt werden.
Kommt es danach auf die Auslegung des Abkommens bzw. des Transformationsgesetzes an, so ist für das anhängige Verfahren von ausschlaggebender Bedeutung, dass durch das Gesetz zu dem Zusatzabkommen vom 20.12 2001 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik zum DBA-FRA[2] und durch das Gesetz zu dem Revisionsprotokoll vom 12.03.2002 zum DBA-CHE[3] die zuvor bereits existierenden Methodenartikel -in für die vorliegende Streitfrage relevanten Passagen- nicht geändert worden sind. Vielmehr wurden die Abkommen nur anderenorts modifiziert. Hinzu kommt, dass die Schweiz in Nr. 81 OECD-MustKomm zu Art. 23A OECD-MustAbk einen Vorbehalt zur Nr. 32 OECD-MustKomm erklärt hatte, soweit der Qualifikationskonflikt die Änderung des innerstaatlichen Rechts nach dem Abschluss des Abkommens betrifft. Beiden Änderungen lassen sich mithin keine nachprüfbaren Hinweise darauf entnehmen, dass die Vertragsstaaten eine Qualifikationsverkettung gewollt hätten.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 11. Juli 2018 – I R 44/16
- z.B. BFH, Urteile vom 23.09.2008 – I R 57/07, BFH/NV 2009, 390; vom 09.02.2011 – I R 54, 55/10, BFHE 232, 476, BStBl II 2012, 106; in BFHE 234, 63, BStBl II 2014, 760; vom 16.01.2014 – I R 30/12, BFHE 244, 354, BStBl II 2014, 721; vom 15.04.2015 – I R 73/13, BFH/NV 2015, 1674; vom 10.06.2015 – I R 79/13, BFHE 250, 110, BStBl II 2016, 326; vom 12.10.2016 – I R 92/12, BFHE 256, 32; BFH, Beschlüsse vom 08.12 2010 – I R 92/09, BFHE 232, 137, BStBl II 2011, 488; vom 21.08.2015 – I R 63/13, BFH/NV 2016, 36; jeweils m.w.N.[↩]
- BGBl II 2002, 2370, BStBl I 2002, 891[↩][↩]
- BGBl II 2003, 67, BStBl I 2003, 165[↩][↩]
- vgl. zum DBA-CHE Kempermann, a.a.O.[↩]
- BGBl II 1985, 927[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 250, 110, BStBl II 2016, 326[↩]
- s. z.B. BFH, Urteile vom 25.10.2006 – I R 81/04, BFHE 215, 237, BStBl II 2010, 778, sowie vom 25.10.2006 – I R 18/04, BFH/NV 2007, 875[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 27.08.2008 – I R 64/07, BFHE 222, 553, BStBl II 2009, 97[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 234, 63, BStBl II 2014, 760[↩]
- verneinend BFH, Urteil in BFHE 244, 354, BStBl II 2014, 721: lediglich Meinungsbild der beteiligten Fisci[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 244, 354, BStBl II 2014, 721[↩]
- vgl. Wassermeyer in Wassermeyer, Vor Art. 1 MA Rz 63[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1[↩]
- BFH, Urteil vom 01.02.1989 – I R 74/86, BFHE 157, 39, BStBl II 1990, 4[↩]
- vgl. Lang in Lüdicke/Mellinghoff/Rödder [Hrsg.], Nationale und internationale Unternehmensbesteuerung in der Rechtsordnung, Festschrift für Dietmar Gosch, 2016, S. 235, 240[↩]
- gl.A. Lang, a.a.O.[↩]