Die Bindungswirkung eines Beschlusses des zuständigen Amtsgerichts zur Bestellung eines Nachtragsliquidators für das finanzgerichtliche Verfahren entfällt nur dann, wenn er als schlechterdings nicht im Rahmen des § 273 Abs. 4 Satz 1 des Aktiengesetzes ergangen anzusehen ist, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen worden ist oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb nach den Maßgaben der Rechtsprechung[1] als willkürlich betrachtet werden müsste.

In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall hat das Finanzgericht Köln ein dort anhängige Verfahren mit Beschluss der Berichterstatterin erneut mit der Begründung ausgesetzt, der Beschluss des Amtsgerichts, mit dem die Nachtragsliquidation für die inzwischen gelöschte … Limited (Ltd.) mit Sitz in Großbritannien angeordnet und der Kläger zum Nachtragsliquidator bestellt wurde, sei zu Unrecht ergangen und deshalb nicht bindend, weil der Gerichtsstand durch arglistige Täuschung über zuständigkeitsbegründende Tatsachen erschlichen worden sei[2]. Auf die Beschwerde des Nachtragsliquidators hat der Bundesfinanzhof den finanzgerichtlichen Beschluss aufgehoben; der Beschluss des Amtsgerichts sei nicht nichtig und daher für das Finanzgericht bindend. Eine erneute Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO komme danach nicht in Betracht, das Verfahren sei fortzuführen:
Nach § 74 FGO kann das Gericht die Aussetzung des Verfahrens anordnen, wenn die Entscheidung ganz oder teilweise vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Dies erfordert keine rechtliche Bindung der vorgreiflichen Entscheidung; ausreichend ist vielmehr, dass die Entscheidung in dem anderen Verfahren in rechtlicher Hinsicht für das auszusetzende Verfahren von Bedeutung ist[3].
Mit dem Finanzgericht ist zwar die wirksame Bestellung eines Vertreters der gelöschten Ltd. erforderlich, um die gemäß dem Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 10.12.2019[4] erforderliche notwendige Beiladung der Ltd. vorzunehmen; allerdings ist der Beschluss des Amtsgerichts für das Finanzgericht bindend und hat den Mangel der Vertretung beseitigt. Der genannte Beschluss mag auf einer -vom Kläger dem AG unzutreffend dargelegten- fehlerhaften Tatsachengrundlage beruhen. Dies macht den Beschluss aber nicht nichtig, sondern nur rechtswidrig.
Eine Gesellschaft ausländischen Rechts, die infolge der Löschung im Register ihres Heimatstaates durch eine behördliche Anordnung ihre Rechtsfähigkeit verliert, besteht für ihr in der Bundesrepublik Deutschland belegenes Vermögen als Restgesellschaft fort. Für eine danach bestehende Restgesellschaft kann auch ein Vertretungsorgan bestimmt werden. Wenn einzelne Abwicklungsmaßnahmen in Betracht kommen, ist entsprechend § 273 Abs. 4 Satz 1 des Aktiengesetzes (AktG) ein Nachtragsliquidator zu bestellen. Sind keine anderweitigen Anhaltspunkte vorhanden, ist für die Bestellung des Nachtragsliquidators dasjenige AG örtlich zuständig, in dessen Bezirk sich das Vermögensrecht befindet[5].
Der Beschluss des örtlich zuständigen Amtsgerichts über die Bestellung eines Nachtragsliquidators hat rechtsgestaltenden Charakter und entfaltet ohne Weiteres für jedermann Bindungswirkung[6]. Dies gilt -entgegen der Annahme des Finanzgerichts- grundsätzlich selbst dann, wenn die Nachtragsliquidation auf einer objektiv unzutreffenden Tatsachengrundlage beruht, die dem Gericht mit dem Willen der Irrtumserregung zur „Erschleichung eines inländischen Gerichtsstandes“ (hier: durch Behauptung eines Goldbestandes als inländisches Vermögen) unterbreitet worden ist. Der Bundesfinanzhof kann es insoweit dahinstehen lassen, ob die fehlerhaften Angaben dem AG entsprechend der Ansicht des Finanzgerichts mit Täuschungsabsicht gemacht worden sind oder nicht. Denn selbst wenn dies zu bejahen wäre, würde dieser Umstand den Beschluss des Amtsgerichts nicht nichtig, sondern lediglich rechtswidrig machen; insoweit wäre es Aufgabe des Finanzgerichts gewesen, das AG über seine Sachverhaltserkenntnisse zu informieren, um ihm selbst die Möglichkeit der Aufhebung seines Bestellungsbeschlusses zu geben.
Der Bundesfinanzhof kann es offen lassen, ob ein Nachtragsliquidator auch ohne inländisches Vermögen zu bestellen wäre, schon weil die gelöschte Ltd. gedanklich so lange fortbesteht, bis das inländische Besteuerungsverfahren abgeschlossen ist[7]. Jedenfalls ist der Beschluss des Amtsgerichts nicht nichtig.
Die Bindungswirkung des vorgenannten Beschlusses für das Finanzgericht entfiele nur dann, wenn er schlechterdings nicht als im Rahmen des § 273 Abs. 4 Satz 1 AktG ergangen anzusehen wäre, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruhte, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen worden wäre oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrte und deshalb als willkürlich betrachtet werden müsste[8]. Hierfür genügt nicht, dass der Beschluss inhaltlich unrichtig oder fehlerhaft ist. Willkür liegt vielmehr nur dann vor, wenn dem Beschluss jede rechtliche Grundlage fehlt und er bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist[9].
o liegt der Streitfall aber erkennbar nicht. Denn selbst bei Bejahung einer „Zuständigkeitserschleichung“ durch bewusst unrichtige Sachverhaltsangaben liegt keine im vorgenannten Sinne willkürliche Entscheidung des Amtsgerichts vor. Ist dem Gericht kein relevanter rechtlicher Fehler unterlaufen, bleibt die Anordnung einer Nachtragsliquidation auch dann bindend, wenn sich im weiteren Verlaufe des Rechtsstreits herausstellt, dass der Kläger oder eine Person, deren Verhalten ihm zuzurechnen ist, sie durch falsche Tatsachenangaben mitverursacht oder gar erschlichen hat[10].
Nichts anderes folgt aus den vom Finanzgericht Köln zitierten Beschlüssen des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 08.09.2003[11] und des Oberlandesgerichts Celle vom 16.12.2003[12]. Sie betreffen durchweg die Verweisung von Insolvenzverfahren und behandeln die Frage einer insoweit bestehenden Bindungswirkung gemäß § 4 der Insolvenzordnung (InsO) i.V.m. § 281 Abs. 2 Satz 4 der Zivilprozessordnung. Dabei wird vor allem die Pflicht des erstbefassten Insolvenzgerichts hervorgehoben, die differenzierten Zuständigkeitsregeln des § 3 Abs. 1 InsO sowie die insoweit bestehende Amtsermittlungspflicht (§ 5 Abs. 1 Satz 1 InsO) zu beachten; in diesem Kontext hätten sich die Insolvenzgerichte gegebenenfalls auch mit der Frage eines rechtsmissbräuchlichen Erschleichens der Zuständigkeit auseinanderzusetzen, wenn es um „Firmenbestattungen“ gehe und im Zuge der Insolvenzantragstellung etwa der eingetragene Sitz des Unternehmens verlagert worden sei oder der Geschäftsführer unter Aufgabe der bisherigen Geschäftsräume sämtliche Firmenunterlagen an seine Privatanschrift verbracht habe. Wenngleich die zitierten Beschlüsse im Ergebnis die Bindungswirkung der jeweiligen insolvenzgerichtlichen Verweisung verneint haben, ist dies nicht etwa deshalb geschehen, weil das verweisende Gericht vom Insolvenzantragsteller getäuscht worden war und auf diese objektiv unzutreffende Sachverhaltsgrundlage verwiesen hatte, sondern weil es seiner grundlegenden Pflicht, die Frage seiner (Un-)Zuständigkeit zu prüfen, nicht ausreichend nachgekommen war. Die jeweilige Verweisungsentscheidung selbst war also aus vom verweisenden Gericht zu verantwortenden Gründen „makelbehaftet“ beziehungsweise willkürlich[13]. So liegt der Streitfall aber gerade nicht.
Soweit das Finanzgericht Köln für seine abweichende Auffassung auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 27.05.2020[14] beziehungsweise den Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 27.01.2016[15] verwiesen hat, ist dies nicht erfolgreich. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Beschluss die angefochtene Entscheidung des Beschwerdegerichts deshalb aufgehoben und den Rechtsstreit an dieses zurückverweisen, weil seine Feststellungen nicht ausreichend waren, um der Entscheidung eines ausländischen Gerichts zur Volljährigenadoption die Anerkennung mit der Begründung zu versagen, es liege ein Verstoß gegen den sogenannten ordre public vor. Der BFH hat seinen Beschluss über die Rechtmäßigkeit einer einstweiligen Anordnung maßgeblich auf das Fehlen eines Anordnungsgrundes und nicht darauf gestützt, dass eine ausländische Restschuldbefreiung wegen des Verstoßes gegen den sogenannten ordre public nicht anzuerkennen sei.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20. März 2024 – I B 25/23
- BGH, Beschlüsse vom 27.05.2008 – X ARZ 45/08, NJW-RR 2008, 1309; und vom 17.05.2011 – X ARZ 109/11, NJW-RR 2011, 1364[↩]
- FG Köln, Beschluss vom 24.04.2023 – 14 K 3066/15[↩]
- z.B. BFH, Urteil vom 07.05.2014 – I R 59/13, BFH/NV 2014, 1752[↩]
- BFH, Beschluss vom 10.12.2019 – I B 11/19, BFH/NV 2022, 24[↩]
- BGH, Beschluss vom 22.11.2016 – II ZB 19/15, BGHZ 212, 381[↩]
- KG, Beschluss vom 02.08.1999 – 2 W 509/99, GmbH-Rundschau -GmbHR- 1999, 1202[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 28.01.2004 – I B 210/03, BFH/NV 2004, 670[↩]
- vgl. zu Verweisungsbeschlüssen: BGH, Beschluss vom 17.05.2011 – X ARZ 109/11, NJW-RR 2011, 1364[↩]
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 27.05.2008 – X ARZ 45/08, NJW-RR 2008, 1309; und vom 17.05.2011 – X ARZ 109/11, NJW-RR 2011, 1364[↩]
- vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 18.06.2009 – 3 AR 0047/09[↩]
- BayObLG, Beschluss vom 08.09.2003 – 1Z AR 86/03, GmbHR 2003, 1495[↩]
- OLG Celle, Beschluss vom 16.12.2003 – 2 W 117/03, NJW-RR 2004, 627[↩]
- OLG Dresden, Beschluss vom 18.06.2009 – 3 AR 0047/09[↩]
- BGH, Beschluss vom 27.05.2020 – XII ZB 54/18, NJW 2020, 3026[↩]
- BFH, Beschluss vom 27.01.2016 – VII B 119/15, BFH/NV 2016, 1586[↩]