Nichtrückkehrtage von Grenzgängern – oder: der Chorsänger in der Schweiz

Das Mitglied eines Opernchors ist „Künstler“ i.S. von Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010.

Nichtrückkehrtage von Grenzgängern – oder:  der Chorsänger in der Schweiz

Das Besteuerungsrecht des Tätigkeitsstaats nach Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010 umfasst auch die Vergütungsteile, welche dem Künstler für die Mitwirkung an Proben gezahlt werden, die der Vorbereitung der Auftritte vor Publikum dienen.

Für die Berechnung der „Nichtrückkehrtage“ gemäß Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2010 spielt es auch für die Veranlagungszeiträume vor 2015 keine Rolle, ob der Arbeitnehmer in dem betreffenden Kalenderjahr für einen oder für mehrere Arbeitgeber tätig gewesen ist[1].

Eine Übereinkunft zwischen den deutschen und den Schweizer Steuerbehörden (hier: Konsultationsvereinbarung mit der Eidgenössischen Steuerverwaltung zur einheitlichen Anwendung und Auslegung des Art. 15a DBA-Schweiz 1971 i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 21.12 1992,[2]) bindet die Gerichte nicht (Bestätigung der ständigen Rechtsprechung). § 2 Abs. 2 AO (i.d.F. des JStG 2010) i.V.m. § 9 Abs. 1 KonsVerCHEV vom 20.12 2010[3] ändert daran nichts; § 2 Abs. 2 AO (i.d.F. des JStG 2010) genügt insoweit nicht den Bestimmtheitsanforderungen, die nach Art. 80 Abs. 1 GG an eine Verordnungsermächtigung zu stellen sind.

So unterfielen auch im hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall die vom klagenden Chorsänger vom Opernhaus A und von der B-Akademie bezogenen Einnahmen als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i.S. von § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG der Einkommensteuer:

Der Chorsänger hat im Streitjahr seinen Wohnsitz im Inland gehabt und ist daher gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG mit seinem Welteinkommen unbeschränkt einkommensteuerpflichtig.

Die Vorinstanz hat die vom Chorsänger für die Mitwirkung in den Opernchören erhaltenen Vergütungen -in Übereinstimmung mit den Auffassungen der Beteiligten- als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i.S. von § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG qualifiziert. Zu diesem Ergebnis ist das Finanzgericht aufgrund einer Gesamtwürdigung der festgestellten Umstände des vorliegenden Falles und in Abgrenzung von den Merkmalen der selbständigen Arbeit nach § 18 EStG gekommen. Dabei hat es insbesondere als maßgeblich angesehen, dass der Chorsänger in den Geschäftsbetrieb der Opernchöre eingegliedert, dem Direktionsrecht der Chordirektionen unterworfen, an festgelegte Regelarbeitszeiten und Arbeitsorte gebunden war, er zudem feste Bezüge erhalten, Anspruch auf Sozialleistungen gehabt und kein Unternehmerrisiko getragen hat. Der Bundesfinanzhof ist an diese Würdigung, die keinen Rechtsfehler erkennen lässt und gegen die die Beteiligten keine zulässigen und begründeten Einwendungen erhoben haben, gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden.

Der für die Mitwirkung in den Opernchören zugeflossene Arbeitslohn ist weder hinsichtlich des auf die Auftritte vor Publikum entfallenden Teils noch hinsichtlich des auf die Absolvierung der Proben entfallenden Teils aufgrund des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen; und vom Vermögen vom 11.08.1971[4] i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 27.10.2010[5] -DBA-Schweiz 1971/2010- von der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer ausgenommen. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus Art. 15 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d DBA-Schweiz 1971/2010.

Gemäß Art. 15 Abs. 1 DBA-Schweiz 1971/2010 können vorbehaltlich der Art. 15a bis 19 DBA-Schweiz 1971/2010 Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, die eine in einem Vertragstaat ansässige Person aus unselbständiger Arbeit bezieht, nur in diesem Staat besteuert werden, es sei denn, dass die Arbeit in dem anderen Vertragstaat ausgeübt wird (Satz 1). Wird die Arbeit dort ausgeübt, so können die dafür bezogenen Vergütungen in dem anderen Staat besteuert werden (Satz 2). In dem letztgenannten Fall wird die Doppelbesteuerung bei in Deutschland ansässigen Personen durch Freistellung der Gehälter, Löhne und ähnlichen Vergütungen von der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer vermieden (Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d DBA-Schweiz 1971/2010).

Art. 15 Abs. 1 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2010 kommt jedoch im Streitfall nicht zur Anwendung, weil die Voraussetzungen der gegenüber dieser Bestimmung vorrangigen Regelung des Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010 erfüllt sind.

Gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010 können ungeachtet der Art. 7, 14 und 15 des Abkommens Einkünfte, die berufsmäßige Künstler, wie Bühnen, Film, Rundfunk- oder Fernsehkünstler und Musiker, sowie Sportler und Artisten für ihre in dieser Eigenschaft persönlich ausgeübte Tätigkeit beziehen, in dem Vertragstaat besteuert werden, in dem sie diese Tätigkeit ausüben. Auch Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010 weist zwar somit dem Tätigkeitsstaat (hier: Schweiz) ein Besteuerungsrecht zu. Im Unterschied zu Art. 15 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d DBA-Schweiz 1971/2010 wird die Doppelbesteuerung in diesem Fall jedoch nicht durch Ausnahme der Vergütung von der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer vermieden, sondern durch Anrechnung der in der Schweiz erhobenen Steuer auf die deutsche Steuer nach Maßgabe von Art. 24 Abs. 1 Nr. 2 DBA-Schweiz 1971/2010 i.V.m. § 34c EStG.

Das Finanzgericht hat den Chorsänger hinsichtlich seiner Mitwirkung an den Opernchören zu Recht als berufsmäßigen Künstler i.S. des Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010 angesehen. Die dagegen vom Chorsänger erhobenen Einwendungen sind unbegründet.

Art. 17 DBA-Schweiz 1971/2010 gilt nicht nur für selbständig tätige Künstler, Sportler und Artisten, sondern auch für solche Steuerpflichtige, die die betreffende Tätigkeit in Ausübung einer nichtselbständigen Arbeit verrichten[6]. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Umstand, dass Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010 den Vorrang dieser Bestimmung ausdrücklich auch gegenüber Art. 15 des Abkommens anordnet, welcher die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit regelt. Soweit der Chorsänger die Sinnhaftigkeit dieser Erstreckung auch auf Einkünfte aus festen und langjährigen Arbeitsverhältnissen mit Blick auf den ursprünglichen Beweggrund für die abkommensrechtliche Sonderstellung der Künstler- und Sportlereinkünfte -nämlich der mit der Berufstätigkeit dieser Steuerpflichtigen typischerweise verbundenen Mobilität durch eine weitgehende Zuweisung der Einkünfte an den jeweiligen Tätigkeitsstaat zu begegnen[7]– in Zweifel zieht, handelt es sich um ein rechtspolitisches Anliegen. Eine einschränkende Auslegung (teleologische Reduktion) des Art. 17 DBA-Schweiz 1971/2010 kann damit nicht begründet werden, da hierdurch der aus dem Abkommenswortlaut klar erkennbare Wille der Vertragstaaten missachtet würde. Die allgemeine Auslegungsregel des Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.05.1969 -WÜRV-[8], in innerstaatliches Recht transformiert seit Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes vom 03.08.1985[9] am 20.08.1987[10], ermöglicht die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zwecks. Die Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Vertrags ist sonach auf den Abkommenswortlaut bezogen[11] und kann nicht zu einer dem Wortlaut widersprechenden Auslegung führen[12].

Der Chorsänger war Künstler i.S. von Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs[13] ist der Künstlerbegriff der Art. 17 des Musterabkommens der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD-Musterabkommen -OECD-MustAbk-) nachgebildeten Bestimmungen, zu denen auch Art. 17 DBA-Schweiz 1971/2010 gehört, eigenständig abkommensrechtlich auszulegen, wenn das betreffende Abkommen dafür eine Grundlage bietet[14]. Nationalrechtliche Künstlerbegriffe des Anwenderstaats -wie z.B. der Begriff der künstlerischen Tätigkeit in § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 und in § 50a Abs. 1 Nr. 1 EStG- sind demgegenüber nicht maßgeblich[15].

Nach diesen Maßgaben ist Art. 17 DBA-Schweiz 1971/2010 dahin auszulegen, dass das Mitglied eines im Rahmen einer Opernaufführung auftretenden Opernchors unter den Künstlerbegriff (Bühnenkünstler bzw. Musiker) fällt. Das gilt auch auf der Grundlage des Vorbringens des Chorsängers, er habe als Chormitglied keinerlei individuelle Gestaltungsmöglichkeit gehabt und sei daher lediglich ein „(weitgehend willenloses) Werkzeug des Chordirektors“ gewesen. Aus einer Gesamtschau der in Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010 beispielhaft aufgeführten Bühnen, Film, Rundfunk- oder Fernsehkünstlern und Musikern sowie der Gleichsetzung mit Sportlern und Artisten ist abzuleiten, dass es für die Tatbestandsmäßigkeit nicht auf ein besonderes künstlerisches Niveau oder eine bestimmte eigenschöpferische Gestaltungshöhe ankommt[16]. Maßgeblich ist danach vielmehr, dass es sich um eine persönlich ausgeübte vortragende Tätigkeit handelt, die vornehmlich dem Kunstgenuss oder auch nur der Unterhaltung des Publikums dient, was bei dem Auftritt eines Opernchors im Rahmen einer Opernaufführung fraglos der Fall ist. Handelt es sich -wie im Falle von Orchestern oder Chören- um den gemeinsamen Auftritt einer Personengruppe, sind sämtliche Mitglieder der Gruppe und nicht nur deren Leiter oder Dirigenten als Künstler i.S. des Art. 17 DBA-Schweiz 1971/2010 anzusehen[17]. Inwiefern dem einzelnen Ensemblemitglied hinsichtlich der Art und Weise seines Vortrags individuelle Gestaltungsmöglichkeiten verbleiben oder nicht, ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung.

Der Tatbestand des Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010 erfasst nicht nur die auf die Mitwirkung an den Auftritten vor Publikum entfallenden Vergütungsbestandteile, sondern auch jene Bestandteile, die dem Chorsänger nach den Regelungen der Chorzuzügerverträge für die Mitwirkung an den Proben gezahlt worden sind.

Nach dem oben wiedergegebenen abkommensrechtlichen Verständnis gelten die Art. 17 OECD-MustAbk nachgebildeten Künstlerartikel nicht für jegliche Form persönlich ausgeübter Künstlertätigkeit. Vielmehr ist aus den in Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010 aufgeführten Beispielen zu schließen, dass nur Vergütungen für Tätigkeiten solcher Künstler, Sportler und Artisten erfasst werden, die unmittelbar oder mittelbar (über Medien) in der Öffentlichkeit auftreten und dabei Darbietungen erbringen, die künstlerischen oder unterhaltenden Charakter haben[18]. Die vergüteten Tätigkeiten müssen danach durch den Auftritt vor Publikum veranlasst sein.

Ein solcher direkter Auftrittsbezug ist hier nach den Gegebenheiten des vorliegenden Streitfalls auch hinsichtlich der Probentätigkeiten gegeben, die der Chorsänger in Erfüllung der Chorzuzügerverträge in der Schweiz ausgeübt hat. Denn auf der Grundlage der Feststellungen des Finanzgericht und nach dem Inhalt der Chorzuzügerverträge hat es sich dabei um solche Proben gehandelt, die der Vorbereitung der jeweiligen Auftritte der Opernchöre und der für diese Auftritte erforderlichen Koordination der Chöre mit den sonstigen Ensemblemitgliedern (Orchestermusikern und Sängern) gedient haben. Ein über die Vorbereitung der jeweiligen Opernaufführungen hinausgehender Zweck der Proben -z.B. eine Stärkung der allgemeinen künstlerischen Fähigkeiten der Mitwirkenden- ist demgegenüber nicht erkennbar. Ein solcher Zweck folgt auch nicht daraus, dass nach den Regelungen in den Chorzuzügerverträgen gesonderte Vergütungsregelungen für die Mitwirkung an den Aufführungen einerseits und an den verschiedenen Proben andererseits getroffen worden sind. Ursache hierfür war offenkundig, dass die Vertragspartner unterschiedliche Stundensätze für die Mitwirkungen an den Aufführungen, Generalproben und sonstigen Proben vereinbaren wollten. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass die Proben aus Sicht der Vertragspartner einen eigenständigen, über die Vorbereitung der jeweiligen Opernaufführungen hinausgehenden Zweck gehabt haben. Solches ergibt sich auch nicht aus dem vom Chorsänger hervorgehobenen Umstand, dass er auch dann einen Anspruch auf die Vergütung der Probentätigkeit gehabt hätte, wenn er an der Mitwirkung an der späteren Aufführung gehindert gewesen wäre.

Der geschilderte enge Bezug der Proben zu den jeweiligen Opernaufführungen reicht aus, um den für Art. 17 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010 erforderlichen Auftrittsbezug zu bejahen[19]. Dafür sprechen auch Sinn und Zweck der Zuweisung des Besteuerungsrechts für die Künstler- und Sportlerentgelte an den Tätigkeitsstaat. Diese Zuweisung wurde geschaffen, um das Besteuerungsrecht für bestimmte Berufsgruppen, die aufgrund der mit der Berufstätigkeit typischerweise verbundenen Mobilität und vielfachen Einnahmemöglichkeiten im Wohnsitzstaat hinsichtlich der Einkünfte aus der Auslandstätigkeit oftmals nur schwer steuerlich erfasst werden können, dem Tätigkeitsstaat zuzuweisen, für den die praktischen Schwierigkeiten der steuerlichen Erfassung dieser Einkünfte in der Regel geringer sind[20]. Es wäre vor diesem Hintergrund nicht zweckgerecht, dass die Vergütungsteile, die der Künstler für die am Aufführungsort absolvierten Proben erhält, abkommensrechtlich anders behandelt werden als die auf die eigentlichen Auftritte entfallenden Vergütungsteile.

Der Bundesfinanzhof setzt sich mit diesem Abkommensverständnis nicht in Widerspruch zu dem Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts in L/M/vS/K, B 17.1 Nr. 60, auf welches sich das Finanzgericht für seine Sichtweise gestützt hat. Dieses Urteil betrifft einen in der Schweiz ansässigen Radsportler, der bei einem niederländischen Sport-Team angestellt war und von diesem u.a. ein leistungsunabhängiges Jahres-Grundgehalt erhielt. Nach Auffassung des Schweizerischen Bundesgerichts ist dieses Grundgehalt nicht nach Art. 17 Abs. 1 OECD-MustAbk anteilig auch jenen Drittstaaten (u.a. Deutschland) zuzuweisen, in denen der Radsportler unabhängig von konkreten Rennveranstaltungen Trainingseinheiten ohne Publikum absolviert hatte. Der wesentliche Unterschied dieses Sachverhalts zu dem hier zu beurteilenden Fall liegt darin, dass die Trainingseinheiten des Radsportlers gerade keinen Bezug zu bestimmten Rennveranstaltungen gehabt haben, während vorliegend aus den dargelegten Gründen ein direkter Zusammenhang der Proben mit den ebenfalls im Tätigkeitsstaat stattfindenden Opernaufführungen gegeben war.

Die zwischen dem Chorsänger und dem BMF streitige Frage, inwiefern für die Auslegung des Art. 17 DBA-Schweiz 1971/2010 in Bezug auf das Streitjahr auch auf das erst im Rahmen der Revision 2014 in den OECD-Musterkommentar zu Art. 17 OECD-MustAbk unter Nr. 9.1 aufgenommene Beispiel zurückgegriffen werden kann, in welchem u.a. die Entgelte für im Tätigkeitsstaat durchgeführte Proben von Künstlern -ausdrücklich genannt werden Opernsänger, die vertraglich zur Teilnahme an Proben verpflichtet sind- unabhängig davon zum Anwendungsbereich des Art. 17 OECD-MustAbk gerechnet werden, ob es sich um Proben für spezifische Auftritte handelt oder nicht, bedarf keiner Erörterung durch den Bundesfinanzhof. Im Streitfall handelt es sich -wie erläutert- um auftrittsbezogene Proben.

Die Rechtswirkungen des Art. 17 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 24 Abs. 1 Nr. 2 DBA-Schweiz 1971/2010 werden im Streitfall nicht durch die Grenzgängerregelung des Art. 15a Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010 verdrängt. Zwar gebührt Art. 15a DBA-Schweiz 1971/2010 bei Steuerpflichtigen mit Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Vorrang gegenüber Art. 17 DBA-Schweiz 1971/2010[21]. Doch liegen die Voraussetzungen der Bestimmung im Streitfall nicht vor.

Gemäß Art. 15a Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz 1971/2010 können ungeachtet des Art. 15 des Abkommens Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, die ein Grenzgänger aus unselbständiger Arbeit bezieht, in dem Vertragstaat besteuert werden, in dem dieser ansässig ist. Grenzgänger in diesem Sinne ist gemäß Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz 1971/2010 jede in einem Vertragstaat ansässige Person, die in dem anderen Vertragstaat ihren Arbeitsort hat und von dort regelmäßig an ihren Wohnsitz zurückkehrt (Satz 1). Kehrt diese Person nicht jeweils nach Arbeitsende an ihren Wohnsitz zurück, entfällt die Grenzgängereigenschaft nur dann, wenn die Person bei einer Beschäftigung während des gesamten Kalenderjahres an mehr als 60 Arbeitstagen auf Grund ihrer Arbeitsausübung nicht an ihren Wohnsitz zurückkehrt (Satz 2).

Nach den für den Bundesfinanzhof gemäß § 118 Abs. 2 FGO verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz, gegen die die Beteiligten keine Einwendungen erhoben haben, war der Chorsänger im Streitjahr durchgehend kein Grenzgänger im vorstehend beschriebenen Sinne, weil er an mehr als 60 -nämlich an 85- Arbeitstagen aufgrund seiner Arbeitsausübung nicht an seinen Wohnsitz zurückgekehrt ist.

Zutreffend ist auch die Rechtsauffassung des Finanzgericht, der zufolge es für die Berechnung der Nichtrückkehrtage gemäß Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2010 keine Rolle spielt, ob der Arbeitnehmer in dem betreffenden Kalenderjahr für einen oder für mehrere Arbeitgeber tätig gewesen ist[22].

Soweit es demgegenüber in Rz 15 des Einführungsschreibens des BMF zur Neuregelung der Grenzgängerbesteuerung des DBA-Schweiz 1971 vom 19.09.1994[23] heißt, im Falle eines Arbeitgeberwechsels im Tätigkeitsstaat innerhalb eines Kalenderjahrs sei die 60-Tages-Grenze bezogen auf das jeweilige Arbeitsverhältnis zu teilen, ist dem nicht zu folgen, da der Wortlaut des Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2010 für eine gesonderte Berechnung der Nichtrückkehrtage eines Kalenderjahrs nach einzelnen Arbeitgebern keinerlei Anhalt bietet.

Dass das BMF-Schreiben in BStBl I 1994, 683 auf einer Vereinbarung zwischen den zuständigen deutschen Behörden mit der Eidgenössischen Steuerverwaltung „zur einheitlichen Anwendung und Auslegung“ des Art. 15a DBA-Schweiz 1971 (i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 21.12 1992[2]) beruht, führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Bundesfinanzhof misst einer zwischenstaatlichen Konsultationsvereinbarung -in Einklang mit den Grundsätzen zur Auslegung von Verträgen nach Art. 31 WÜRV- zwar Bedeutung für die Auslegung der Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA) bei. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs kann jedoch die „Grenzmarke“ für das richtige Abkommensverständnis immer nur der Abkommenswortlaut sein; wird das in der Konsultationsvereinbarung gefundene Abkommensverständnis durch den Wortlaut nicht gedeckt, dann kann die Vereinbarung die Abkommensauslegung durch die Gerichte nicht beeinflussen oder die Gerichte gar binden[24]. So liegt der Fall hier in Bezug auf die Rz 15 des BMF, Schreibens in BStBl I 1994, 683, die mit dem Wortlaut des Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/2010 nicht in Einklang zu bringen ist.

An diesem Befund ändert es nichts, dass die oben zitierte Passage aus Rz 15 des BMF-Schreibens in BStBl I 1994, 683 in die Bestimmung des § 9 Abs. 1 der Verordnung zur Umsetzung von Konsultationsvereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Deutsch-Schweizerische Konsultationsvereinbarungsverordnung -KonsVerCHEV-) vom 20.12 2010[3] aufgenommen worden ist. Der Bundesfinanzhof hat mit Urteil in BFHE 250, 110, BStBl II 2016, 326 entschieden, dass § 24 Abs. 1 Satz 2 KonsVerCHEV, der die Besteuerung von Arbeitnehmer-Abfindungen betrifft, keine Rechtswirkungen entfaltet, weil die Ermächtigungsgrundlage des § 2 Abs. 2 AO i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2010 (JStG 2010) vom 08.12 2010[25] insoweit nicht den Bestimmtheitsanforderungen genügt, die nach Art. 80 Abs. 1 GG an eine Verordnungsermächtigung zu stellen sind. Entsprechendes muss auch für § 9 Abs. 1 KonsVerCHEV gelten. Denn auch im Hinblick auf die Grenzgängervorschrift des Art. 15a DBA-Schweiz 1971/2010 enthält § 2 Abs. 2 AO i.d.F. des JStG 2010 keine näheren Vorgaben zu Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Verordnungsermächtigung.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 30. Mai 2018 – I R 62/16

  1. entgegen BMF, Schreiben vom 19.09.1994, BStBl I 1994, 683; und vom 18.12 2014, BStBl I 2015, 22[]
  2. BGBl II 1993, 1888, BStBl I 1993, 928[][]
  3. BGBl I 2010, 2187, BStBl I 2010, 146[][]
  4. BGBl II 1972, 1022, BStBl I 1972, 519[]
  5. BGBl II 2011, 1092, BStBl I 2012, 513[]
  6. ebenso Schweizerisches Bundesgerichts vo, Urteil 06.05.2008 – 2C_276/2007, abgedruckt in Locher/Meier/von Siebenthal/Kolb -L/M/vS/K-, Doppelbesteuerungsabkommen Schweiz-Deutschland 1971 und 1978, B 17.1 Nr. 60 zu einem angestellten Radsportler[]
  7. vgl. dazu z.B. Wassermeyer/Schwenke in Wassermeyer, MA Art. 17 Rz 1; Schlotter in Schönfeld/Ditz, DBA, Art. 17 Rz 2; Stockmann in Vogel/Lehner, DBA, 6. Aufl., Art. 17 Rz 3[]
  8. BGBl II 1985, 927[]
  9. BGBl II 1985, 926[]
  10. BGBl II 1987, 757[]
  11. Lehner in Vogel/Lehner, a.a.O., Grundlagen Rz 106a[]
  12. vgl. BFH, Urteil vom 14.12 1988 – I R 148/87, BFHE 155, 374, BStBl II 1989, 319[]
  13. BFH, Urteile vom 08.04.1997 – I R 51/96, BFHE 183, 110, BStBl II 1997, 679 -betreffend das Abkommen mit Großbritannien-; und vom 18.07.2001 – I R 26/01, BFHE 196, 135, BStBl II 2002, 410 -betreffend die Abkommen mit Österreich und mit den Niederlanden-[]
  14. ebenso z.B. Wassermeyer in Wassermeyer, MA Art. 17 Rz 21; Schlotter in Schönfeld/Ditz, a.a.O., Art. 17 Rz 29; Maßbaum in Gosch/Kroppen/Grotherr/Kraft, DBA, Art. 17 OECD-MustAbk Rz 24; Mody in Strunk/Kaminski/Köhler, AStG/DBA, Art. 17 OECD-MustAbk Rz 13[]
  15. anders noch BFH, Urteil vom 11.04.1990 – I R 75/88, BFHE 160, 513[]
  16. Brandis in Wassermeyer, Schweiz Art. 17 Rz 19; Kempermann in Flick/Wassermeyer/Kempermann, Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland-Schweiz, Art. 17 Rz 11; Wassermeyer in Wassermeyer, MA Art. 17 Rz 22; Mody in Strunk/Kaminski/Köhler, a.a.O., Art. 17 OECD-MustAbk Rz 15; Schlotter in Schönfeld/Ditz, a.a.O., Art. 17 Rz 30; Maßbaum in Gosch/Kroppen/Grotherr/Kraft, a.a.O., Art. 17 OECD-MustAbk Rz 40 f.; BMF, Schreiben vom 25.11.2010, BStBl I 2010, 1350, Rz 17[]
  17. vgl. Wassermeyer/Schwenke in Wassermeyer, MA Art. 17 Rz 24[]
  18. vgl. BFH, Urteile vom 02.12 1992 – I R 77/91, BFHE 170, 126; in BFHE 183, 110, BStBl II 1997, 679; in BFHE 196, 135, BStBl II 2002, 410; ebenso Schweizerisches Bundesgericht, Urteil in L/M/vS/K, B 17.1 Nr. 60; BMF, Schreiben in BStBl I 2010, 1350, Rz 80[]
  19. vgl. Kempermann in Flick/Wassermeyer/Kempermann, a.a.O., Art. 17 Rz 16 und Rz 22 Stichwort „Proben/Training“[]
  20. vgl. BFH, Urteil in BFHE 196, 135, BStBl II 2002, 410[]
  21. vgl. Brandis in Wassermeyer, Schweiz Art. 15a Rz 25; Kempermann in Flick/Wassermeyer/Kempermann, a.a.O., Art. 15a Rz 14[]
  22. ebenso FG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.10.2015 3 K 2913/13, EFG 2016, 1061 -Revision unter – I R 22/16-; Brandis in Wassermeyer, Schweiz Art. 15a Rz 49; Kempermann in Flick/Wassermeyer/Kempermann, a.a.O., Art. 15a Rz 49; für die Zeit ab 1.01.2015 auch BMF, Schreiben vom 18.12 2014, BStBl I 2015, 22 -beruhend auf einer Verständigungsvereinbarung zwischen den deutschen Finanzbehörden und der Eidgenössischen Steuerverwaltung vom 28.11.2014-[]
  23. BStBl I 1994, 683[]
  24. BFH, Urteile vom 02.09.2009 – I R 111/08, BFHE 226, 276, BStBl II 2010, 387; vom 10.06.2015 – I R 79/13, BFHE 250, 110, BStBl II 2016, 326[]
  25. BGBl I 2010, 1768, BStBl I 2010, 1394[]